1

  • Es war einmal ein junger Mensch. Die Welt war böse zu ihm. Alles was er tat, tat er falsch. Nichts funktionierte. Bald lachte alles über ihn, am Ende spottete es sogar in ihm drin, von innen heraus. Tat er keinen Schritt, so wäre einer nötig gewesen. Tat er einen, trat er daneben. Bald machte er seinen Mund nicht auf noch zu. Viele seiner Jahre vergingen. Aber auf einmal lag vor ihm die goldene Nuss. Sie sprang einfach auf! Es bedurfte nicht einmal eines Nussknackers.

    2

  • Es war einmal ein Kind. Das juckte es den lieben langen Tag. Soviel es auch kratzte, salbte oder sich zusammenriss, alles half nicht. Seine feuerrote Haut schlug Blasen und wurde ihm immer fremder. Es wusste bald nicht mehr das Schöne vom Schmerz zu unterscheiden. Es fühlte sich schrecklich, dass es kein Ansehen war und sich sogar Sonne und Mond von ihm abwandten und hinter Wolken versteckten. Aber die tobende Haut schrie nun noch lauter und wütender. Das Kind darin wurde immer stiller und wagte sich kaum mehr zu bewegen. Wenn es raus musste, zog es dicke Hosen und langärmelige Kleider an, selbst im Hochsommer. Es brauchte viele Jahre seines Lebens um in dem ganzen Geschrei der Haut endlich einige ihrer Worte zu verstehen. Diese aber erwiesen sich als wertvoller als alles Geld der Welt. Heute erkunden Haut und Kind zusammen die Welt, die sich so anders anfühlt, und retten sich ab und zu gegenseitig. So leben sie noch heute im Strahlen der Sonne, kosen das Fell der Tiere, spüren offen das Kitzeln der Gräser und die Blicke der Menschen.

    3

  • Es war einmal ein Mann. Dem war kein Berg zu hoch und kein Graben zu tief. Er wusste, was er wollte, und bekam es meistens, denn er war geschickt und umsichtig. So hätte es immer weitergehen können, wäre nicht sein dummes Knie gewesen. Zuerst hielt er den Schmerz für einen läppischen Streich. Doch der Schmerz kehrte wieder unter dem Gipfel des Mount Everest und vereitelte den ersehnten Aufstieg. Von da an stand der Mann mit seinem Knie auf Kriegsfuss. Er schleppte es von Arzt zu Arzt und überliess es schliesslich nach reiflicher Überlegung dem Messer eines Kollegen. Das Knie blieb unbeeindruckt. Es beharrte darauf, zu schmerzen (mittlerweile ohne Befund). Doch eines Tages tat der Mann unversehens und unmerklich einen winzigen Schritt in eine andere Richtung. Das Neue begann so subtil, dass der Mann den Richtungswechsel erst viel später erkannte. Sein Knie aber lachte sich auf der Stelle ins Fäustchen und machte fortan wieder alles ohne Kapriolen mit.

    4

  • Es war einmal ein Mensch, dem tat es immer weh. Morgens, abends, nachts. Mittags hatte er Kaffee und kurz Ruhe, als wollte ihn der Schmerz foppen. Doch der blieb nicht einmal an Ort. Er wanderte. Der Mensch kannte inzwischen jeden Muskel und alle Wirkstoffe gegen Schmerzen. Es tat ihm weh nach dem Sport. Es tat ihm weh vor dem Sport. Es tat ihm weh vor dem Essen und nach dem Essen. Versuchte er es ohne Sport, riss der Schmerz wieder ein, beim Fasten dasselbe. Der siebte Arzt fand auch nichts, Freunde nannten ihn einen Hypochonder. Nach 10 Jahren und 10'000 Stunden hielt der Mensch sich für einen Experten ohne Papier. Der Schmerz widersetzte sich weiterhin jeder Kontrolle. Sass er im Leib? Sass er im Kopf? Ich bin besessen, soviel steht fest, sagte der Mensch. Dann, nach Jahren, hat ihn der Schmerz einfach verlassen. Er ist gewichen. Durch das warme Dunkel des Bauchraums, war sich der Mensch gewiss. Die Pillen haben endlich gewirkt. Oder die neuen Bilder haben den Schmerz hinausgedrängt. Der ist nur selten noch wiedergekehrt, fast eher als Gruss aus der Vergangenheit, um gleich wieder zu verschwinden und Gegenwärtigem Platz zu machen. Und diese Gegenwart ist voll und rund.

    5

  • Es war einmal eine Frau, die hörte, sie würde bald sterben. Das wollte sie aber nicht. Sie wollte noch so vieles. Sie schaute in den Spiegel. Bin ich das? Wer war ich denn bis jetzt? Was bedeutet das alles? Diese Behandlungen und Statistiken: Woran glaube ich? Wem zuliebe bin ich da? Habe ich Zeit? Warum setzt mich mein Leib so unter Druck? Was jetzt? Einen Moment innehalten. Sein. Dem inneren Wachsen lauschen. Nach nichts greifen. Dem Ordnen zusehen. Das braucht keine Zeit. Soso, wo bleibt sie denn? Es gibt die Wunder. Natürlich. Und es geht auch ohne Wunder.
    • 6

    • Es war einmal jemand, dem alles gelang. Was dieser Mensch anpackte, stand unter guten Sternen. Im Berufsleben war dieser Mensch hochgeschätzt, seine Partnerschaft erfüllend und seine zahlreichen Kinder zierten die Gesellschaft. Dieser Mensch war froh, sich durch die Gunst der Schicksals und eiserne Gesundheit auf der Sonnenseite des Lebens zu wissen und konnte es geniessen, keinen existenziellen Ängsten ausgesetzt zu sein. Jeden Tag gab er von früh bis spät sein Bestes, um das Leben, das Gedeihen und Wohlstand zu voranzubringen. Nur dann und wann, das war sein Geheimnis, warf dieser Mensch sich auf eine Liege. Da wurde er ganz ruhig. Aaahh. Viel mehr dachte er nicht. Alles war gut.

      7

    • Es war einmal ein Kind, das hätte bloss im Keller eine Flasche zum Nachtessen holen sollen. Doch im erdigen Dunkel weitete sich der Raum aus. Da war eine Maus vor einem tiefen Loch. Da folgte das Kind dem winzigen Tier hinein. Bald kannte es sich gut aus unter der Erde und machte eine Menge Bekanntschaften. Es musste nur darauf achten, den Ausgang wieder zu finden und rechzeitig mit der Flasche in der Hand durch den unheimlichen Keller wieder zur Wohnung zu gelangen. Nachts hatte es Träume, zuweilen auch am Tag, da flog es weit hinauf und tippte dem Adler mit seinem Finger zwischen die Augen. Der nahm es mit auf die grosse Runde und zeigte ihm die ganze Welt von oben mit seinen scharfen Augen. Weit unten erspähte es Familie und Freunde, zuletzt sich selbst. Von hier oben konnte es seinem kleinen Ich helfen, das sich da unten abmühte, die Schuhe zu binden. Das ging ganz leicht. Über einer Strassenkreuzung kam ihnen eine surrende Drohne entgegen, aber der Adler konnte zeitlos navigieren und sehen, nämlich nicht nur in die Teller sondern auch in die Bäuche und die Seelen einiger Menschen hinein, von allen Seiten gleichzeitig. Nun wurde es dem Kind etwas mulmig, da hob der Adler blitzschnell die rauschenden Schwingen und setzte das Kind wieder mitten in seinem Traum ab. Ist das alles wahr, fragte das Kind und weil es nicht gestorben ist, so fragt es das noch heute.

      8

    • Es war einmal ein alter Mann, der wollte endlich jung sein. Denn seine Jugend war ihm damals gestohlen worden. Er fand sie nie wieder, obwohl er sie hartnäckig verfolgte bis ins hohe Alter. Mangelnden Biss konnte ihm keiner nachsagen. Manches hatte er versucht, sich mehrfach verliebt, Sport getrieben, eine zweite Familie gegründet, fliegen gelernt. Gegen die Ungerechtigkeit der Welt erschienen ihm heute alle Massnahmen wie Kosmetik. Jetzt strebte er nach Tabula rasa, Carte blanche. Heute war sein Tag. Heute würde er diesen Stein loswerden. Er griff nach der Zeitung.

      9

    • Es war einmal eine Frau, die dachte immer für alle an alles. Sie vergass nichts und niemanden. Zuerst vergass sie ihre Zettel. Sie vergass ihren Weg. Sie vergass ihr Haus. Sie vergass ihren Mann. Sie vergass ihren Namen. Sie vergass ihre Kinder. Sie vergass alle Jahre. Sie vergass ihr Leben. Sie vergass ihr Wort im Mund. Sie vergass ihr Lied. Sie vergass ihr Frühstück. Sie vergass ihr Bett. Sie vergass Dich. Sie erkennt Dich nicht mehr. Doch jetzt zaubern Deine Blumen ein leises Lächeln in ihr Gesicht. Sie schnuppert am duftenden Strauss. Sie sitzt in der Sonne mit Dir. Wo ist sie bloss hin mit den ganzen Erinnerungen? Von wo aus sieht sie Euch zu? Wo ist sie? Du folgst ihrem Blick und guckst nach oben ins gleissende Licht.